Die Kontakt-Strategie ist die erste Überlebensstrategie im NARM und prägt unser Erleben von Nähe, Distanz und Lebendigkeit.
Viele Menschen spüren den Wunsch nach Verbundenheit – und zugleich Angst davor. Dieser Artikel lädt ein, die Wurzeln dieser
Dynamik zu verstehen, die Schutzmuster von damals zu würdigen und neue Wahlmöglichkeiten im Kontakt zu entdecken.
Viele Menschen kennen das Gefühl: Im Alltag sehnen wir uns nach Nähe, doch sobald jemand uns wirklich sieht oder auf uns zukommt, taucht Unsicherheit auf. Wir fühlen uns in Gruppen schnell überfordert, meiden Kontakte – und wünschen uns doch gleichzeitig nichts mehr, als wirklich verbunden zu sein.
Andere erleben, dass sie ihre Bedürfnisse kaum äußern können, weil sofort die Angst auftaucht, anderen zur Last zu fallen. Und wieder andere spüren im Körper eine ständige innere Anspannung, als wäre da immer eine diffuse Gefahr im Hintergrund.
Wenn du dich in solchen Beschreibungen wiederfindest, bist du nicht allein. Aus NARM-Sicht sind dies typische Erlebnisse von Menschen, deren frühe Erfahrungen im Kontakt nicht so sicher waren, wie sie gebraucht worden wären.
In NARM sprechen wir von fünf Überlebensstrategien – die Kontakt-Strategie ist die erste, und sie beeinflusst alle weiteren. Sie entsteht in den allerersten Lebensmonaten. Jede weitere Strategie baut auf ihr auf.
Noch bevor wir Bedürfnisse klar äußern können, brauchen wir das sichere Gefühl, willkommen und gehalten zu sein. Wenn diese Erfahrung weniger verfügbar ist, kann es schwerer sein, innere Sicherheit zu entwickeln. Unser Nervensystem sucht dann Wege, trotzdem in Bindung zu bleiben. Deshalb wirkt die Kontakt-Strategie auf alle weiteren Überlebensstrategien – sie ist das Fundament, auf dem sich Vertrauen, Autonomie und Liebe entfalten können.
💡 Wenn beim Lesen etwas zu viel wird: Atme kurz aus, spüre deine Füße am Boden. Lies gerne in Etappen – du kannst jederzeit pausieren.
Frühkindliche komplexe Erfahrungen
Diese Antworten haben ihren Ursprung in sehr frühen Zeiten. Schon im Mutterleib nehmen wir die Welt wahr. Erfahrungen – ob willkommen oder nicht – beeinflussen, wie wir lernen, unser Nervensystem zu regulieren und Sicherheit im Kontakt zu erleben.
Nach der Geburt sind wir vollkommen abhängig von wohlwollendem Kontakt: Halt, Wärme, Geborgenheit und Schutz sind lebensnotwendig. Wenn weniger davon verfügbar ist, kann sich unser inneres Fundament unsicher anfühlen.
Anders als andere Primaten – zum Beispiel Affenbabys, die sich direkt nach der Geburt am Fell der Mutter festklammern können – sind wir Menschen extrem verletzlich. Wir brauchen lange Zeit die Nähe und Fürsorge anderer, um zu überleben und uns zu entwickeln. Wenn wir in dieser sensiblen Zeit keinen verlässlichen Halt erleben, kann sich unser Nervensystem eher an Unsicherheit orientieren.
Vielleicht magst du kurz bemerken, was dein Körper jetzt macht, während du das liest – atmet er flach oder tief, schnell oder ruhig?
Zwei Wege, mit Unsicherheit umzugehen
Es gibt viele kreative Weisen, mit innerer Unsicherheit umzugehen. Zwei davon begegnen wir besonders häufig und vielleicht erkennst du dich darin wieder – ohne dass es feste Kategorien sein müssen.
Manche Menschen suchen Sicherheit im Denken und Analysieren. Gedanken und Theorien geben Halt – und Gefühle geraten dabei oft unbemerkt in den Hintergrund. Das sehen wir häufig bei Menschen, die in Feldern wie Physik, Wissenschaft, Mathematik, Ingenieurwesen oder Politik tätig sind – Berufe, in denen analytische Fähigkeiten im Vordergrund stehen und geschätzt werden.
So entsteht eine Identifikation, die Sicherheit vermittelt: „Ich bin klug, rational, unabhängig vom Chaos der Gefühle.“ Doch hinter dieser Fassade kann das Nervensystem oftmals angespannt bleiben. Und zugleich wird ein wichtiger Teil des Erlebens – das Fühlen – an den Rand gedrängt.
Andere finden Halt in spirituellen Konzepten oder Praktiken. Spirituelle Praxis kann sehr unterstützend sein – manchmal nutzen wir sie jedoch auch, um uns von Unsicherheit oder Verletzlichkeit zu entfernen. Dann entsteht ein inneres Bild wie: „Ich stehe über meinen Gefühlen.“ Typische Muster sind zum Beispiel:
- Rückzug ins Transzendente („Alles ist eins“) statt wirklicher Nähe.
- Überdecken von Schmerz mit spirituellen Erklärungen.
- Idealisierung von Praxis oder Lehre, um reale Beziehung weniger zu spüren.
Auch hier kann der Körper angespannt bleiben – während nach außen ein Bild von Erhabenheit entsteht.
Diese Beispiele zeigen, wie wir Stabilität gefunden haben. Sie waren intelligente, kreative Antworten, die uns halfen, da zu sein und Verletzlichkeit zu überstehen. Später im Leben können sie uns manchmal einengen – besonders dann, wenn wir damit vollständig identifiziert sind und wenig Wahl darin spüren.
Schutzmuster innerhalb der Kontakt-Strategie Denken & Analysieren
In dieser Strategie entstehen typische Antworten:
- Distanz durch Verstand: Nähe wird intellektuell gehalten – Gefühle werden erklärt statt gespürt.
- Kontrolle über Analyse: Unsicherheit wird durch Verstehen und Planen abgewehrt.
- Entwertung von Gefühlen: Emotionen erscheinen irrational oder störend, während kognitive Leistungen betont werden.
- Perfektionismus & Leistung: Anerkennung wird über Denken und Ergebnisse gesucht, um sich willkommen zu fühlen.
- Körperliche Distanzierung: Das Erleben bleibt „im Kopf“, während Körpersignale in den Hintergrund treten.
Diese Muster waren einst die bestmögliche Antwort auf eine Umgebung, in der sicherer Kontakt nicht selbstverständlich war. Sie haben uns geschützt und getragen. Im NARM geht es nicht darum, sie loszuwerden oder zu ersetzen, sondern sie mit Mitgefühl zu würdigen – und mehr Wahlmöglichkeiten zu entwickeln, wie wir heute in Kontakt gehen und einfach da sein können.
Überlebensstrategien und Schutzmuster
👉 Kurz gesagt: Ohne die Kontakt-Strategie wäre oft Bindung, Überleben und Weiterentwicklung gar nicht möglich gewesen. Sie war die beste Antwort in einer Situation, die anders nicht zu bewältigen gewesen wäre.
Gerade in der Kontakt-Überlebensstrategie haben wir in unserer frühen Kindheit Wege gefunden, um Bindung und Nähe aufrechtzuerhalten – auch wenn sich diese unsicher oder nicht willkommen anfühlten. Diese Antworten halfen uns, da zu sein und Verbindung zu bewahren, selbst auf Kosten unserer freien Lebendigkeit. Sie gaben uns Halt und halfen uns, weiterzugehen.
Heute zeigen sie sich oft darin, dass wir Gefühle zurückhalten, Distanz suchen oder versuchen, über Leistung und Anpassung doch einen Platz zu finden. Auch wenn sie uns manchmal begrenzen: Sie waren einst unsere kreative Antwort auf eine schwierige Umgebung – ein Ausdruck davon, wie stark und intelligent unser Bedürfnis nach Verbindung war und ist.
Herausforderungen im Kontakt
Diese frühen Strategien wirken bis ins Erwachsenenalter hinein. Sie führen zu wiederholten Erfahrungen von Ablehnung oder Rückzug – und erschweren gesunde Beziehungen. Menschen fühlen sich innerlich unsicher, misstrauisch oder allein, selbst wenn im Außen Kontakt angeboten wird.
In Partnerschaften kann das bedeuten, Nähe zu wünschen und gleichzeitig zu fürchten. Im Freundeskreis entsteht leicht das Gefühl, nicht dazuzugehören oder zu viel zu sein. Auch im beruflichen Alltag zeigt sich das – etwa in der Schwierigkeit, Unterstützung einzufordern oder Kritik nicht sofort als Ablehnung zu erleben.
Woran merkst du Kontaktstress?
– Ich meide Gruppen.
– Ich halte den Atem an.
– Ich will Nähe und ziehe mich doch zurück.
Wenn du magst, nimm dir einen Moment, um deinen Atem zu spüren. Vielleicht ist da ein kleiner Bereich im Körper, der sich gerade etwas weicher oder ruhiger anfühlt.
Der Kernkonflikt: Angst und Sehnsucht
Was viele dann im Alltag spüren, lässt sich so zusammenfassen: eine gleichzeitige Bewegung hin zur Nähe – und weg von ihr. Einerseits gibt es den tiefen Wunsch nach Nähe, Geborgenheit und Verbundenheit. Andererseits kann genau dieser Kontakt Unsicherheit, Stress oder sogar Panik auslösen. Das Nervensystem zieht gleichzeitig in zwei Richtungen.
Aus dieser Spannung entsteht ein Gefühl, keinen festen Boden zu haben. Menschen erleben widersprüchliche Impulse wie: „Ich brauche dich – aber ich halte dich nicht aus.“ Vertrauen aufzubauen wird dadurch schwer, Beziehungen können sich unsicher oder anstrengend anfühlen.
Um mit diesem Spannungsfeld zurechtzukommen, haben wir Strategien entwickelt. Sie gaben uns Halt, können aber später unser freies Sein einschränken. Auch wenn sie in der Vergangenheit entstanden sind: Heute können wir im Hier und Jetzt neugierig erforschen, was möglich ist – gemeinsam, im sicheren Rahmen von Beziehung.
Vielleicht bemerkst du jetzt: Während du von dieser inneren Bewegung liest, wie fühlt sich dein Körper an? Gibt es etwas, das sich sicher anfühlt – auch wenn es klein ist?
Was stabilisiert im NARM
Im NARM wirkt stabilisierend, wenn wir bemerken, was im Moment Halt gibt – sei es eine kleine Ruhe im Atem, eine freundliche Erinnerung oder das Gefühl, gesehen zu werden. Stabilität entsteht nicht durch Druck, sondern dadurch, dass wir im Hier und Jetzt mehr Wahl erleben.
Auch Selbstmitgefühl spielt eine große Rolle: Statt zu denken „mit mir stimmt etwas nicht“, können wir anerkennen: „So habe ich mich geschützt, es war die beste Lösung damals.“ In sicheren Beziehungen – ob therapeutisch oder im Alltag – können wir neue Erfahrungen machen, die uns beruhigen und den Organismus regulieren. Oft reicht ein kleiner Moment von Sicherheit.
🌿 Kleine Einladung: Magst du einen Moment deine Füße am Boden spüren und bemerken, wie der Atem gerade fließt? Vielleicht findest du sogar eine Stelle im Körper, die sich etwas ruhiger oder angenehmer anfühlt.
Wege in NARM
Im NARM geht es darum, wieder in bewussteren Kontakt mit uns selbst und mit anderen zu treten. Es geht weniger darum, etwas zu reparieren, sondern darum, mitfühlend zu erforschen, wie wir uns im Inneren orientieren.
Ein wichtiger Schritt ist, die innere Strenge wahrzunehmen, mit der wir uns oft begegnen. Diese Strenge hat ihren Ursprung darin, dass wir sehr früh die Erfahrung machten, nicht vollständig willkommen zu sein. Aus der Dynamik von Zurückweisung und Scham entstand eine Haltung: „Mit mir stimmt etwas nicht – ich muss mich mehr anstrengen, besser sein, weniger fühlen.“ Sie half uns damals, Bindung nicht zu verlieren. Heute dürfen wir lernen, dieser Strenge mit mehr Freundlichkeit zu begegnen. Wenn wir uns erlauben, mit einer herzlicheren Offenheit auf uns zu blicken, entsteht Raum für mehr Verbundenheit, Lebendigkeit und einfaches Sein.
Heilung geschieht dabei nicht isoliert, sondern in Beziehung. Neue Erfahrungen im Kontakt sind entscheidend: sicher gehalten zu sein, angenommen zu werden und mit dem, was da ist, willkommen zu sein. Auf diese Weise kann unser Organismus andere Möglichkeiten entwickeln – jenseits von alten Strategien.
Schritt für Schritt dürfen diese weicher werden, sodass mehr Spontaneität, Authentizität und Nähe erlebbar wird. Dabei geht es weniger um Veränderung, sondern darum, neugierig wahrzunehmen, was im Moment möglich ist – und wie viel Wahl heute da sein kann.
Du musst nichts verändern. Schon allein wahrzunehmen, wie du dich gerade erlebst, ist ein wichtiger Schritt.
Vielleicht magst du auch erinnern, was dir einmal Sicherheit gegeben hat – ein schöner Ort, die Nähe zu einem Menschen, ein Haustier oder eine freundliche Erinnerung.
Fazit
Kontakt ist die Basis von Lebendigkeit. Unsere frühen Erfahrungen damit prägen vieles, was später kommt. Wenn wir uns diesen Erfahrungen zuwenden und neue Beziehungserfahrungen zulassen, können wir Altes wandeln.
Der Weg, mit uns selbst freundlicher und offener zu werden – und daraus mehr Verbindung zu spüren, ist ein Prozess. Aber er lohnt sich. Denn in dieser Verbindung wartet mehr Leben, mehr Freiheit und mehr Authentizität. Kontakt beeinflusst unseren gesamten Organismus und prägt nicht nur unser Erleben von Lebendigkeit, sondern auch, was wir den Rest unseres Lebens über uns selbst und die Welt denken.
Wenn du magst, nimm mit: Du bist nicht falsch. Vielleicht braucht es nur ein paar freundlichere Schritte in Kontakt – mit dir, mit anderen, in deinem eigenen Tempo.
Am Ende kann alles unterstützend wirken, was einen freundlichen Kontakt fördert: wenn wir netter mit uns sind, uns etwas Gutes tun oder kleine Momente von Wärme zulassen. Mit mehr Selbstmitgefühl und sicherem Kontakt entsteht wieder Zugang zu unserer Lebendigkeit – der Kraft, die schon immer da war. Vielleicht ist es wie ein warmer Sonnenstrahl, den wir wieder spüren dürfen.
Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine Therapie. Er soll Impulse geben und Interesse am NARM-Ansatz wecken.
👉 Wenn du dich angesprochen fühlst und mehr erfahren möchtest, kannst du dich gerne an mich wenden.
Rafael Prentki – Heilpraktiker Psychotherapie – NARM Practitioner